Zauberwald

Wir wissen alle, daß unser Leben irgendwann einmal zu Ende gehen wird. Was dann kommt, erträumen wir uns. Dies ist das Märchen von Pferden und ihren Menschen. Aber eigentlich ist es gar kein Märchen, sondern die Wahrheit, denn diese Pferde gibt es wirklich, und ich erzähle eigentlich nur ihr Leben. Und von ihrem Leben danach...

Für jedes Pferd gibt es im Zauberwald einen leuchtenden Kristall. Mit der Geburt eines jeden Fohlens wird dieser entsprechende Kristall von der Kristallgöttin wie ein Schatz aufbewahrt. Jeder Stein leuchtet so hell wie die Sonne und funkelt und glitzert. Aber - anhand des Glanzes kann die Kristallgöttin erkennen, ob es dem Pferd auf Erden bei seinem Menschen wirklich gut geht. Und täglich erreichen Pferde aller Rassen, Farben und Größen den Zauberwald, wenn sie kein irdisches Leben mehr haben. Im Zauberwald gibt es viele große Bäume, die Schatten spenden, Quellen mit frischem, reinen Wasser, viele Koppeln, wo sie mit ihren Freunden nach Herzenslust herumtoben können. Alle sind immer gesund, haben ausreichend gutes Futter, müssen nie arbeiten und werden nicht geschlagen.

Gerade erreichte wieder ein Pferd die Pforte zum Zauberwald. Ein mächtiger und prachtvoller Friesenhengst, Novil ist sein Name. Er ist sehr alt geworden und trotz seiner 36 drei viertel Jahre immer noch ein herrliches Pferd. Als er bei der Kristallgöttin erscheint, holt sie seinen Kristall, der sehr hell strahlt und von innen heraus so stark leuchtet, wie sie es selten gesehen hat. "Du mußt aber ein gutes Leben auf der Erde gehabt haben, so wie dein Stein leuchtet..." "Ja, ich hatte es immer gut. Schon als Fohlen wurde ich immer sehr lieb behandelt, ich wurde nie geschlagen, bekam immer bestes Futter und konnte den ganzen Tag mit meinen Freunden auf der Weide herumtoben. Mein Mensch war immer für mich da. Viele schöne Jahre haben wir gemeinsam verbringen können. Durch meine zahlreichen Söhne und Töchter werde ich auf Erden unsterblich sein. Als mein Leben zu Ende ging, war mein Mensch bis zur letzten Sekunde bei mir. Und ich freue mich auf den Tag, wenn wir uns wiedersehen." Die Kristallgöttin wies ihm eine Weide zu, die besonders schön war. Aber Novil sagte: "Nein, gib diese Weide einem anderen Pferd, was es nicht so gut auf der Erde hatte. Ich nehme gerne eine andere."

Kurz dananch kam eine Norwegerstute den langen Weg gelaufen zur Kristallgöttin. Sie hieß Ronja und war ein Reitschulpony. Ihr Kristall war etwas matt, es fehlte an Leuchtkraft. Da erzählte Ronja ihre Geschichte. "Eigentlich habe ich es recht gut auf der Erde gehabt. Als Reitschulpony mußte ich jeden Tag mehrere Reiter tragen. Die meisten aber waren recht nett. Manchmal taten mir meine Knochen schon sehr weh. Aber wirkliche Not habe ich nicht gelitten. Ich lebte mit anderen Pferden zusammen und gehungert habe ich nie. Wenn ich krank wurde, bin ich gesundgepflegt worden. Danach mußte ich aber immer wieder in den Schulbetrieb.

Als ich älter und schwächer wurde, durfte ich noch ein paar Jahre ohne Arbeit leben, bis ich hier im Alter von 26 durch die Schwelle treten mußte. Aber auf ein Wiedersehen mit meinem Menschen freue ich mich."

Ronja ging zu dem Friesenhengst Novil auf die Weide und sie hatten sich viel zu erzählen. Als sich später noch einmal die Pforte öffnete, kam Jumper zur Kristallgöttin, als sein Leben ausgehaucht war. Jumper humpelte, blutete und war von zahlreichen Wunden übersät. Seine Augen hatten gar keinen Glanz mehr, seine Seele war leer. Die Kristallgöttin hatte zuvor noch nie einen so erbärmlichen Anblick ertragen müssen und holte einen ganz schwarzen Kristall, der gar keine Leuchtkraft mehr hatte. "Was ist dir denn Schreckliches in deinem Leben widerfahren?" Und Jumpy, der sicherlich einmal ein besonders schöner rot-weiß gescheckter Warmblut-Hengst war, erzählte seine Geschichte: "Ich kam als Fohlen auf einem Gestüt auf die Welt und hatte es zunächst gut bei meinen Menschen. Ich war lange bei meiner Mutter und konnte mit anderen Fohlen die erste Zeit meines Lebens verbringen. Aber auch für mich kam recht schnell die Arbeit. Mir machte es anfangs Freude, ich wollte den Menschen gefallen und habe alles gemacht, was sie von mir verlangten. Später bin ich dann verkauft worden an eine Familie, die ein besonderes Geburtstagsgeschenk für ihren Sohn suchten. Und ich sollte das Geschenk sein. Schon vom ersten Moment an hatte ich das ungute Gefühl, daß ich hier nur meiner Schönheit und Leistungsbereitschaft wegen leben sollte. Und so war es auch. Der Sohn sollte ein Turnierpferd bekommen, mit dem er überall glänzen und immer gewinnen sollte. Aber wir haben nie einen Weg zueinander gefunden, oft hat er mich geschlagen, wenn ich einmal gestolpert bin. Es war für mich so schwer, ihm alles Recht zu machen. Er war ein sehr schlechter Reiter, der mir für alles die Schuld gab. Obwohl ich gekört wurde, hat man mich kastriert, weil meine Menschen dachten, daß ich dann lieber und besser würde. Einmal fiel mein Reiter herunter, weil ich mich so erschrocken und dann schnell umgedreht habe. Sie haben mich dann in eine dunkle Box gestellt, mir kein Wasser mehr für mehrere Tage gegeben. Heimlich kam der Sohn und schlug mich heftig mit einer Peitsche, die er aus Stacheldraht gebaut hatte. Ein anderes Mal habe ich mich in der Reithalle so erschrocken, weil draußen ein Gewitter war. Und weil ich kein Vertrauen zu meinem Reiter hatte, drehte ich mich schnell um und wollte weg laufen. Da ist mein Reiter erneut gestürzt. Zur Strafe wurde ich so eng ausgebunden, daß mein Kopf wie angewachsen am Hals war. Dann haben meine Menschen mich ganz hinten in der Reithalle sehr kurz angebunden und für mehrere Tage stehengelassen. Sie meinten, ich würde mich dann dort nie wieder fürchten und könnten mich so erziehen. Schließlich war ich nur da, um Höchstleistung zu bringen, die ich aber so nicht geben konnte, so sehr ich mich auch anstrengte. Aber es wurde mit mir und den Menschen immer schlimmer. Mein Herz war leer, die Seele gebrochen. Schließlich wurde ich zum Schlachter gegeben. Nun bin ich also hier. Erst ein paar Jahre jung und möchte meine Menschen nie nie wieder sehen."

Eigentlich wollte die Kristallgöttin dem Jumpy die schönste Weide geben, aber sie hatte eine ganz andere Idee. Sie schlug ihm folgendes vor: "Sag mal Jumpy, was hälst du davon, wenn ich dich noch für viele Jahre zurück auf die Erde schicke, bis auch dein Kristall ganz glänzend ist?" Aber Jumpy wollte nicht. Er hatte kein Vertrauen zu den Menschen, die ihn jahrelang so gequält hatten. "Und wenn ich dir verspreche, daß du nur noch ganz ganz liebe Menschen um dich hast? Und du wirst einen Menschen kennenlernen, eine Frau, die dich sehr lieb hat und gut versorgt, damit du immer glücklich sein wirst. Du kannst jeden Tag auf eine grüne Weide mit anderen Pferden spielen und alles Schöne in deinem Leben neu entdecken. Du bekommst bestes Futter und wirst sehr gut gepflegt sein. Vertraue mir." Und Jumpy hatte das Gefühl, daß es vielleicht doch noch schön sein könnte auf der Erde. Aber er ging langsam zurück den langen Weg. Er fand ein tolles zu Hause in einem Gestüt, wo er nie wieder mit Brutalität behandelt wurde, nur noch mit Liebe und Verständnis. Sein neuer Mensch - diese Frau, von der die Kristallgöttin gesprochen hatte, verliebte sich sofort in diesen Wallach, weil sie wußte, daß er ein ganz besonders Pferd war. Sie sind beide noch viele Jahre gemeinsam den Weg des Lebens gegangen und jeden Tag faßte Jumpy mehr Vertrauen zu den Menschen, bis sein Kristall wieder ganz hell strahlte.

Nach 34 Jahren war aber auch der Moment gekommen, wo es kein Zurück mehr gab. Er schritt durch die Pforte zum Zauberwald, mit hoch erhobenem Kopf und einem Leuchten in den Augen, das man selten gesehen hat. Jumpys Herz war erfüllt von so viel Liebe, er freute sich auf ein Wiedersehen mit seiner Menschenfrau irgendwann in vielen Jahren. Jumpy schloss sofort Freundschaft mit allen Pferden, die im Zauberwald lebten, mit großen Shire Horses, mit herrlichen Andalusiern, mit bunten Mini-Pferdchen und auch mit Ronja und Novil und allen anderen, deren Kristalle immer hell mit der Sonne um die Wette strahlten.

Seine früheren Peiniger allerdings kamen nie wieder zu ihm. Als deren Leben ausgehaucht war, durchschritten sie eine Pforte zu einer Welt, die ihnen bis dahin verborgen und unbekannt war. Sie wurden mit ihren Taten konfrontiert und mußten von Stund an ihr Leben als Pferd verbringen, als Zugtier vor einem Wagen im Bergwerk. Immer war die Arbeit für sie hart und das Futter knapp. Nie haben sie mehr das Licht des Tages gesehen.

Helma Rädeker

 


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